Rödermark, den 18/03/00
Liebes Bruderherz
Leider kann ich Dir das nicht mehr persönlich mitteilen, was ich dir mit diesem Brief sagen will. Ich hoffe aber und ich versuche ganz stark daran zu glauben, daß Du diesen Brief trotzdem irgendwo und irgendwie lesen kannst, oder, daß Du zumindest spüren kannst, was ich ausdrücken will. Ich glaube nämlich, daß ich als deine Schwester mit am besten beurteilen kann, was für ein toller Mensch Du warst. Ich denke, da stimmen mir viele zu. Aber nur ich, und da bin ich wohl auch die einzige, kann von sich aus behaupten, daß Du -MEIN BRUDER- bist und es auch immer sein wirst. Und da bin ich auch stolz darauf, so einen tollen Menschen als Bruder zu haben. Ich denke, daß die Beziehung zwischen UNS etwas ganz Besonderes war und hoffentlich auf eine andere Weise für immer sein wird. Ich weiß, daß Du da gleicher Meinung bist.
Auch denke ich oft, fast jeden Tag, an frühere
Zeiten zurück, so weit, als wir noch ganz kleine Rabauken
waren und uns eigentlich nicht so recht mochten. So, wie das bei
Geschwistern wohl meistens der Fall ist. Wir waren nicht immer
so nett zueinander, das belegen schließlich diverse Erzählungen
unserer Eltern und Super 8 Filme. So, wie wir uns jetzt akzeptieren,
haben wir das nicht von Anfang an getan. Ich war mehr die kleine,
dumme Schwester, die plötzlich auch Aufmerksamkeiten und
Zärtlichkeiten der Eltern erfuhr. Das konntest Du damals
natürlich nicht verstehen und dementsprechend ´nett´
warst Du auch zu mir.
Naja, da hast Du mir halt lieber an meinen paar Haaren gezogen,
die ich damals besaß. Aber Du kannst beruhigt sein, ich
habe DIR verziehen!!!!!!!!!!!
Ich glaube, soweit ich zurückdenken kann, so im Kindergartenalter,
hattest DU für mich schon eine Art Beschützer- und
Vorbildfunktion als mein großer Bruder eingenommen. Ich
denke, das hast Du auch gern für deine kleine Schwester getan,
meistens zumindest. Oder???
Naja, als wir dann beide zur Schule gingen,
konnte man auch noch nicht von einer bilderbuchhaften Geschwisterbeziehung
sprechen. Vielmehr war es eher die „ dumme, nervige kleine
Schwester, und doofer, großer Bruder - Beziehung“.
Ich muß zugeben, ich habe dich auch öfters bei der
Mama verpetzt, aber Du mich sicher auch. Das ist wohl auch ganz
normal zwischen Geschwistern. Was sich liebt, das neckt sich eben!!!!
Als wir dann älter wurden und langsam
den gleichen Freundeskreis hatten, akzeptierten wir uns plötzlich.
DU warst nicht mehr länger der doofe, große Bruder,
der mich manche Zeit geärgert hat, und den ich auch öfters
verpetzt habe. Vielmehr konnte man jetzt von einer richtig guten
Freundschaft mit Höhen und Tiefen zwischen Bruder und Schwester
sprechen. Da bist DU wohl auch meiner Meinung, oder? Ich habe
es immer genossen, wenn ich gespürt habe, daß du mich
bei deinem Outfit oder bei Frauenproblemen um Rat gefragt hast.
Das hat mir gezeigt, daß Du mich voll akzeptiert hast, und
DIR meine Meinung wichtig war.
Du hast auch meistens das Teil gar nicht erst angezogen, wenn
es mir nicht gefallen hat. Und andersherum war es genauso. Ich
wußte, wenn Du zum Beispiel gesagt hast, das Teil sieht
super aus, dann sah es auch gut aus. Wir brauchten halt beide
immer Bestätigung, da wir nicht ganz 100 % - ig überzeugt
von unserem Auftretet sind/waren. Aber wer ist das schon? Aber
wozu hat man einen Bruder, oder eine Schwester!!!!???
Meiner Meinung nach hättest DU auf
Dein Äußeres, Dein Auftreten, Deinen Witz und Charme
eingebildet sein können. Aber das warst Du zum Glück
nicht.
Jedenfalls habe ich immer mit Stolz gesagt: “ Guck mal, das
ist mein Bruder.“
Besonders zum Anfang letzten Jahres war unsere Beziehung besonders
intensiv, wie ich finde. Wir haben viel zusammen unternommen,
sind zusammen einkaufen gegangen und haben uns bei Beziehungknatsch
gegenseitig beraten....etc.
Jetzt, so im Nachhinein, kann ich erst sagen, wie viel mir das bedeutet hat und was für eine wichtige Rolle DU in meinem Leben gespielt hast und auch immer spielen wirst.
Ich war schon immer stolz darauf, Deine Schwester zu sein und werde es auch in Zukunft sein. Aber es ist so schwer zu akzeptieren, daß Du nie wieder zurückkommst, und daß diese schöne Zeit mit dir Vergangenheit ist. Ich wäre so gerne irgendwann mal Tante geworden. Deine Kinder wären bestimmt genauso hübsch und witzig geworden wie DU. Ich habe wirklich damit zu kämpfen. Ich glaube, dir würde es nicht anders gehen.
Ich bin so froh, daß wir wenigstens
den Tag und den Abend vor dem 1. Mai zusammen verbracht haben,
obwohl ich eigentlich etwas anderes vor hatte.
Schicksal???? Es hat einfach so viel Spaß gemacht mit dir.
Egal wo DU hinkamst, Du hast meistens die anderen mit deiner guten
Laune und deinen dummen Sprüchen angesteckt. Auch an diesem,
unserem letzten gemeinsamen Abend warst DU besonders gut drauf.
Ich habe sogar noch zu einer guten Freundin gesagt, wie froh ich
bin, dich als Bruder zu haben, genau an diesem Abend. Ein paar
Stunden bevor DU mir durch so eine grausame Tat, genommen wurdest.
Ich denke, viele Leute, z.B. Einzelkinder, können nicht nachvollziehen, was für ein Gefühl das ist, die Schwester oder den Bruder zu verlieren. Der Schmerz ist einfach unbegreiflich groß, man kann es nicht beschreiben. Ein Bruder wie DU ist nicht nur ein guter Freund oder Kumpel, nein, er ist gleichzeitig ein Teil von einem selbst, er gehört einfach dazu. Das ist was ganz Besonderes. Ich glaube und hoffe es zumindest, daß mich alle verstehen können, die Geschwister haben und nachvollziehen können, wie eng so eine Beziehung sein kann. Und bei uns war diese Beziehung einfach super und um so größer ist jetzt der Schmerz, den ich verspüre. Ich wundere mich, daß ich jetzt überhaupt die Kraft habe, DIR diesen Brief zu schreiben.
TIMO, ich vermisse DICH so sehr, daß
ich mich manchmal total leer und schlecht fühle, daß
ich mich am liebsten verkriechen würde, weil ich weiß,
daß DICH keiner wieder zurückbringt. Ich denke so oft
daran, wie Du da auf der Straße gelegen haben mußt,
in Todesangst. Es ist einfach so schrecklich, aber ich muß
es irgendwann wohl akzeptieren, verstehen werde ich es wohl nie.
Wahrscheinlich willst auch Du nicht, daß ich mein ganzes
Leben lang traurig bin, sondern mein weiteres Leben genieße
und glücklich werde. So hätte ich mir das für DICH
auch gewünscht. Aber es ist halt so schwer mit dem Schmerz
umzugehen. Ich muß irgendwie damit leben, ich weiß.
Ich hoffe jedenfalls, daß es DIR jetzt
gut geht, wo Du bist. Richtig daran glauben kann ich noch nicht,
aber ich gebe mir Mühe, versprochen!!
Ich bin mir sicher, daß Du mich und alle die DU gern hattest
und geliebt hast genauso stark vermißt.
Ich weiß, daß ich eigentlich dankbar sein muß, für die schöne Zeit, die wir miteinander verbracht haben. Dafür wollte ich DIR einfach mal DANKE sagen und ich hoffe, wenn es so etwas wie ein Leben nach dem Tod gibt, daß wir uns wiedersehen.
Ich vermisse Dich über ALLES!!!!!!!!!!!
Deine DICH liebende Schwester Kerstin